65

Auch Dominic Cavello schielte auf die Uhr im Gerichtssaal, versuchte, das Geplapper um sich herum auszuschalten, das, wie er wusste, in wenigen Augenblicken nichts mehr mit dem Rest seines Lebens zu tun haben würde. Dann nämlich, wenn sich Richter Barnett zu seinem Mikrofon vorbeugen und den, der gerade sprach, mit der Frage unterbrechen würde, ob dies nicht ein guter Zeitpunkt sei. um eine Pause einzulegen.

Und wie auf Kommando unterbrach der Richter um 12:24 Uhr die Befragung des Staatsanwalts. »Mr. Goldenberger …«
Cavello spürte, wie sein Puls anstieg. Sayonara, kicherte er. Das Spiel ist aus. Der kleine Dom geht jetzt nach Hause.
Der Richter wies die potenziellen Geschworenen an, sich um genau vierzehn Uhr wieder im Gerichtssaal einzufinden. Daraufhin strömten sie langsam nach draußen. »Marshals«, rief er, »Sie können jetzt den Angeklagten übernehmen.«
Cavello erhob sich. Ihm war es scheißegal, was als Nächstes passierte. Eher noch machte er den Marshals die Arbeit mit einem »Also gut, Leute« leicht. Die beiden gleichen Männer, die ihn am Vormittag gebracht hatten, sollten ihn zurück ins Gefängnis führen. Der breitschultrige Typ mit dickem Schnurrbart hielt die Handschellen hoch. »Tut mir leid, Dom.«
Cavello streckte die Hände aus. »Kein Problem, Eddie, ich bin ganz dein.«
Er kannte alle ihre Namen, wusste einiges aus ihrem Privatleben. Der Schwarze war während der Operation Wüstensturm Panzerkommandeur gewesen, der mit dem Schnurrbart hatte einen Sohn, der in Wisconsin Football spielte. Er ließ die Handschellen fest um Cavellos Handgelenke zuschnappen.
»Jesses, Jungs, könnt ihr auf einen ehrlichen Bürger nicht ein bisschen Rücksicht nehmen? Hey, Hy«, rief er seinem Anwalt zu, »essen Sie ein leckeres Steak auf mich. Wir sehen uns um zwei.«
Die Marshals führten ihn durch den Seiteneingang zum Fahrstuhl im Flur. Von dort ging es zum Gefängnis, das ein paar Straßenblocks entfernt lag. Cavello hatte diesen Weg schon so oft zurückgelegt, dass er ihn wahrscheinlich auch im Schlaf finden würde.
»Weißt du, was das Schlimmste daran ist, den Rest seines Lebens im Knast zu sitzen?« Auf dem Weg in den Flur zwinkerte er dem Marshal mit dem Schnurrbart zu. »Das Essen! Besonders in diesem Saustall Marion. Weißt du, was einen da bei der Stange hält?« Er stupste ihn mit dem Ellbogen. »Das Todesurteil. Ja, genau. Die Todesspritze.« Cavello lachte. »Das ist das Einzige, was einem noch Hoffnung gibt.«
Eine dritte Wache mit einem Funkgerät in der Hand hielt ihnen die Fahrstuhltür auf. »Sie sind auf dem Weg!«, bellte er in sein Gerät. Eddie und der Schwarze begleiteten ihn hinein.
Der Schwarze drückte auf »U« für Untergeschoss. Cavello wusste, dass sich der Fahrstuhl in keinem anderen Stockwerk von außen anhalten ließ, wenn die Taste für den Keller gedrückt wurde, sondern nur noch von innen. Die Tür schloss sich hinter ihnen.
Cavello drehte sich zu dem schwarzen Marshal, der nie viel redete. »Magst du Pizza, Bo? Schwarze essen doch Pizza, oder?«
»Ja, ich mag Pizza, Dom«, brummte der Schwarze.
»Klar, alle Polizisten mögen Pizza.« Cavello seufzte. »Hey, wisst ihr, was wir tun sollten? Diese Sache hier sausen lassen. Wie wär’s, wenn wir im Erdgeschoss anhalten und für ein, zwei Stunden einen Abstecher in mein altes Viertel in Brooklyn machen? Ich zeige euch, was echtes italienisches Essen ist. Kommt schon, bis um zwei bringe ich euch wieder zurück. Wird keine Sau merken, dass wir weg waren.«
Die Ziffern der Stockwerksanzeige im Auge, stupste er Eddie an, als der Fahrstuhl losfuhr.
»Das wär echt der Knüller, Eddie. Die ganze freie Welt sucht nach uns – während wir gemütlich im Pritzie’s bei Kalbfleisch mit Paprika und einem Bier sitzen. Und? Was sagst du?«
Der stämmige Marshal grinste. »Hört sich nach einem Plan an, Dom.«
»Ja, danach hört es sich an«, meinte Cavello immer noch mit Blick auf die Anzeige. »Nach einem Plan.«
Andie wartete draußen im Flur auf mich. Sie meinte, sie habe genug gesehen und wolle gehen. Ich fuhr mit ihr und ein paar der potenziellen Geschworenen nach unten in die Eingangshalle. Eine seltsame Stimmung herrschte zwischen uns. Als ich ihr sagte, dass ich sie für ziemlich tapfer hielt, gab sie mir rasch einen Kuss auf die Wange.
»Danke, Nick. Das war eine gute Idee.«
Auf dem Weg zurück nach oben schob ich meinen Kopf in den Sicherheitsraum mit den Monitoren, um mich wegen Cavello zu erkundigen. Er wurde gerade ins Untergeschoss gebracht. Ich blickte einem der Beamten über die Schulter und sah, wie Cavello mit den Wachmännern plauderte, während er in den Fahrstuhl geführt wurde. Alles war unter Kontrolle. Der Sicherheitschef stand mit allen Stationen entlang des Weges in engem Kontakt. »Cavello wird abtransportiert«, berichtete er.
Plötzlich zitterte die Erde unter uns wie bei einem Erdbeben! Kaffeetassen, Stifte und Klemmbretter fielen scheppernd auf den Boden.
»Gott, da ist was passiert.« Einer der Agenten deutete auf einen der Monitore. »In der Garage! Da unten ist irgendwas explodiert! Verdammte Scheiße!«
Wir drängten uns um den Monitor, doch grauer Qualm behinderte die Sicht, bis alles vollständig schwarz wurde.
Einer der in der Garage stationierten Wachleute meldete sich per Funk. »Hier unten gab’s eine Explosion. Die Garage brennt. Es könnte Verletzte geben, aber ich kann nicht viel erkennen. Hier ist alles voller Rauch.«
Der Captain griff zum Mikrofon. »Hier ist Meacham. In der Garage gab es einen Vorfall! Eine Art Sprengkörper wurde gezündet. Ich brauche sofort das Sondereinsatzkommando, Verstärkung und medizinische Versorgung. Und ich will, verdammt noch mal, wissen, was da los ist.«
Ich brauchte nicht auf den Monitor zu blicken. Ich wusste, was los war.
Die Bildschirme wurden auf unterschiedliche Kamerapositionen geschaltet, um einen Überblick zu bekommen. Ich packte Meacham an der Schulter. »Captain, es geht nicht um die Garage. Es geht um Cavello! Setzen Sie alle Agenten in Alarmbereitschaft. Er ist auf dem Weg nach unten!«
Ich rannte zum anderen Ende der Konsole, wo der Fahrstuhl überwacht wurde.
Meine Güte, nein!
Erschreckt riss ich die Augen auf, konnte nicht glauben, was ich da sah – wusste aber, dass es wieder passierte.
Ich rannte zur Tür.
Cavello stand immer noch mit den Wachen im Fahrstuhl und riss Witze, was das Zeug hielt, schielte aber ständig auf die Stockwerksanzeige: 6, 5, 4 …
Jetzt!
In diesem Moment stürzte er auf die Schalttafel zu und drückte mit dem Daumen fest auf das wärmeempfindliche Feld für den zweiten Stock.
»Was soll das?« Der Fahrstuhl blieb ruckartig stehen, und die Tür wurde geöffnet. Der schwarze Marshal packte Cavello und drückte ihn gegen die Wand. Jemand anderes trat ein.
Der Marshal riss den Mund weit auf. »Was soll …«
Der erste Schuss traf ihn zwischen die Augen und schleuderte ihn gegen die Fahrstuhlwand, wo er, während er nach unten sank, eine dunkelrote Spur hinterließ.
Der nächste Schuss traf Eddie in die Brust. Zwei pflaumenfarbene Kreise bildeten sich auf seinem weißen Hemd. Eddie stöhnte mit tiefer Stimme und ließ Cavello los, während er in sich zusammensackte. »Ich habe Kinder«, sagte er mit Blick auf den Schützen.
»Tut mir leid, Eddie«, sagte Cavello nur. Zwei weitere gedämpfte Schüsse, und der Wachmann schwieg.
»Los«, schnauzte der Israeli. Er drückte die Taste fürs Erdgeschoss und warf Cavello einen Beutel zu. »Wir haben nicht viel Zeit.«
Im Beutel befanden sich eine Damenperücke und ein Regenmantel. Der Israeli stülpte die Perücke über Cavellos Kopf und hängte den Mantel locker über dessen Schultern, um die Handschellen so gut wie möglich zu verbergen. Ihm blieben nur wenige Sekunden, mehr nicht, während die Aufmerksamkeit auf die Explosion in der Garage gelenkt wurde.
Cavello zog die Perücke nach unten. »Sitzt alles?«
»Hoffen wir’s«, meinte Nordeschenko und stellte sich hinter Cavello, um die Waffe zu verbergen. »Bist du bereit? Sicherheit gibt es nicht.«
»Egal, was passiert«, erwiderte Cavello, »besser als lebenslänglich ist es allemal.«
»Mag sein«, stimmte der Israeli zu.
Im Erdgeschoss glitten die Fahrstuhltüren wieder zur Seite. Menschen warteten, um nach oben zu fahren.
»Der ist kaputt. Nehmen Sie einen anderen«, brummte Nordeschenko und schob Cavello an ihnen vorbei. Die beiden eilten den langen Flur entlang zum Seitenausgang, der auf die Worth Street führte.
Hinter ihnen hatte man die Leichen im Fahrstuhl entdeckt. Schreie gellten durch die Eingangshalle. »Beeil dich!«, drängte Nordeschenko, ohne sich umzudrehen. »Oder wir sterben beide hier. Ich bin allergisch gegen Gefängnisse.«
Es waren noch etwa vierzig Meter bis zum Kontrollpunkt am Ausgang, doch es schienen weit mehr zu sein, als sie sich, die Schreie hinter sich ignorierend, ihren Weg zwischen den Umherstehenden bahnten. Nordeschenko entdeckte Reichardt und zwei von Cavellos Männern, die als Presseleute am Eingang standen. Er klappte den Kragen von Cavellos Regenmantel nach oben und eilte auf sie zu.
Noch fünfzehn Meter, mehr nicht.
Ein Funkgerät knackte. »Da ist was passiert!«, rief einer der Wachleute. »Macht die Schotten dicht, sofort!«
Reichardt zog ein dunkles Metallteil unter seinem Mantel hervor, dann brach das Chaos aus. Schüsse aus einer Automatikwaffe ratterten durch die Eingangshalle. Ein Wachmann ging zu Boden, noch bevor er nach seiner Waffe greifen konnte, eine blonde Polizistin fummelte hektisch an ihrem Halfter, als Reichardt sie mit einer Salve seiner Automatikwaffe gegen die Marmorwand schleuderte. Sie war schon tot, noch bevor sie am Boden lag.
Nordeschenko und Cavello erreichten rennend den Ausgang.
»FBI! Alles auf den Boden!«, rief jemand.
Nordeschenko drehte sich um. Am Ende des Flurs stand ein Mann, in der ausgestreckten Hand eine Waffe, während er versuchte, an der Menge vorbei einen Schuss abzugeben. Scheiße. Nordeschenko drückte Cavello fest an sich. Eine Kugel pfiff an seinem Gesicht vorbei, bohrte sich in die Brust von einem von Cavellos Ganoven. Reichardt erwiderte das Feuer. Der Lärm war ohrenbetäubend. Die Umstehenden schrien und suchten Schutz.
Nordeschenko deckte Cavello mit seinem eigenen Körper – das war seine Aufgabe –, als er sich durch die Tür schob. Sie waren draußen!
Um sie herum herrschte das reine Chaos. Polizisten eilten auf den Eingang der Tiefgarage zu. Die Explosion hatte die gewünschte Wirkung erzielt. Dunkle Rauchwolken stiegen nach oben.
Ein junger Polizist kam auf sie zugerannt, unsicher, was er tun sollte. »Wir sind verletzt«, sagte Nordeschenko. »Schauen Sie.« Als sich der Polizist vorbeugte, hielt Nordeschenko ihm die Mündung seiner Heckler an die Brust und drückte ab. Stöhnend brach der junge Mann zusammen.
Vor ihnen quietschten die Reifen eines schwarzen Bronco. Die hintere Tür wurde aufgestoßen, und Nordeschenko, Cavello und Reichardt sprangen geduckt hinein.
Nezzi saß am Steuer. Ohne überhaupt richtig gestanden zu haben, preschte der Bronco weiter.
Ein Lieferwagen hinter ihnen fuhr los und blieb plötzlich mitten auf der Straße stehen. Eventuelle Verfolger waren blockiert.
Die Ampel an der Kreuzung war grün. Nezzi bog auf die St. James Plaza, jagte zwei Blocks weiter bis über den Chatham Square, fuhr nach rechts über die Catherine Street nach Chinatown hinein und wieder nach rechts auf die Henry Street, wo er in einer Parklücke hielt.
Nordeschenko, der immer noch Cavello deckte, sprang aus dem Wagen, riss die Schiebetür eines blauen Minivans auf und schob Cavello hinein. Er selbst setzte sich ans Steuer. Reichardt und Nezzi stiegen auf der anderen Straßenseite in einen beigefarbenen Acura. Nordeschenko winkte zum Abschied.
Zum ersten Mal, seit das Chaos ausgebrochen war, spürte Nordeschenko so etwas wie Optimismus. Niemand folgte ihnen. Niemand schoss auf sie.
Die beiden Fahrzeuge setzten sich in Bewegung.
Einen Block weiter rasten drei Polizeiwagen mit Blaulicht in der entgegengesetzten Richtung an ihnen vorbei. Nordeschenko gestattete sich ein Lächeln. Eines Tages würde man ein Expertengutachten über diese Flucht erstellen.
»Haben wir’s geschafft?«, fragte Dominic Cavello hinter ihm und hob den Kopf.
»Für den Moment ja«, antwortete Nordeschenko. »Jetzt müssen wir dich nur noch von dieser Insel runterschaffen.« Ich rannte nach draußen und konnte nur hilflos mit ansehen, wie der schwarze Bronco losbrauste. Es gab keine Möglichkeit, ihn aufzuhalten. Er bog um die Ecke, verschmolz mit dem Verkehr und verschwand.
Jeder Muskel meines Körpers schien zu schrumpfen und seinen Dienst zu versagen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so nutzlos gefühlt. Zwei Polizeiwagen rasten hinterher, mussten sich an einem Lieferwagen vorbeiquetschen, der die Straße blockierte. Aber es war zu spät. Ich rannte ins Gericht zurück und hielt einem verblüfften Polizisten meinen Dienstausweis vor die Nase, als ich zu seinem Funkgerät griff. »Hier ist Special Agent Nicholas Pellisante vom FBI. Dominic Cavello ist gerade aus dem Gerichtsgebäude am Foley Square geflohen. Er fährt in einem schwarzen Bronco mit unbekanntem Kennzeichen auf der Worth Street nach Osten Richtung Chinatown. Die Verdächtigen haben das Feuer eröffnet, es gibt mehrere Verletzte.«
Ein Polizist lag tot auf dem Bürgersteig. Er konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein. Besucher des Gerichts rannten erschreckt nach draußen. Die meisten hielten die Hände vors Gesicht. Wollten sie verbergen, wie schockiert sie waren?
Ich rannte wieder hinein. Sanitäter kümmerten sich bereits um eine der am Boden liegenden Wachen. Meacham, der Captain, war auch da, aschfahl im Gesicht. Die Gerüchteküche unter den Polizisten brodelte bereits.
Ich spürte den Drang, das Funkgerät gegen die Wand zu schmettern.
Ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen sollte außer zurück in den Sicherheitsraum. Special Agent Michael Doud war vor Ort für die Sicherheitsmannschaft des FBI zuständig, und er spielte bereits die Bänder von der blutigen Szene im Fahrstuhl zurück.
»Ich habe das Fluchtauto gesehen«, berichtete ich. »Schwarzer Bronco, das Kennzeichen konnte ich nicht erkennen. Zwei Marshals wurden draußen erschossen.«
Doud atmete tief durch. »Ich bin mit dem Büro des Bürgermeisters verbunden. Und dem Polizeichef. Alle Tunnel und Brücken, die aus Manhattan rausführen, werden gesperrt. Es wurde höchste Alarmstufe verhängt. Es dürfte unmöglich sein, dass sie von der Insel verschwinden.«
»Darauf würde ich nicht wetten«, meinte ich und biss die Zähne aufeinander.
Ich setzte mich und knallte mit der Faust auf den Tisch. Plötzlich spürte ich, wie alle Kraft aus meinem Körper zu weichen schien. Was war los? Ich legte meine Hand auf meine Brust. Sie fühlte sich warm und glitschig an.
Jesses, Nick.
Ich blutete wie ein abgestochenes Schwein.
Doud sah mich an, und gleichzeitig senkten wir unsere Blicke auf das Blut, das vor mir auf den Boden tropfte.
»Dieses Dreckschwein«, sagte ich und öffnete meine Jacke. Ein riesiger Blutfleck prangte auf meinem Hemd.
»Hol sofort die Sanitäter her!«, rief Doud einem der Sicherheitsbeamten zu.
»Gute Idee.« Ich nickte und ließ mich nach hinten gegen die Wand sinken.
Aus dem Funkgerät ertönte eine Stimme. »Ich glaube, wir haben sie.« Es war die offene Leitung des Krisenzentrums im Rathaus. Ein schwarzer Bronco war gesehen worden, der von der Tenth Avenue abgebogen war, um in den Lincoln Tunnel Richtung New Jersey zu fahren.
»Wir haben den Zugang sperren lassen«, erklärte der Mitarbeiter aus dem Krisenzentrum. »Die Hafenbehörden haben dort eine Sondereinheit eingesetzt.«
Über die Telefonleitung empfingen wir die Videoaufnahmen aus dem Krisenzentrum. Über uns erschien eine Weitwinkelaufnahme vom Tunnel. Der schwarze Bronco war etwa das zehnte Fahrzeug in der Reihe. »Da ist er!« Die Kamera holte das Bild näher heran. Der Verkehr wurde auf zwei Spuren zusammengeführt.
Ich presste meine Hand gegen den Brustkorb, hatte aber nicht die Absicht, mich von hier wegzubewegen. Ich konnte den schwarzen Bronco erkennen. War es derselbe? Jedenfalls sah er genauso aus.
»Das verdächtige Fahrzeug hat Nummernschilder aus New Jersey. EVS-drei-sechs-neun«, wurde über Funk gemeldet.
Eine Sekunde lang war ich vom Geschehen genauso in den Bann gezogen wie alle anderen auch. Ich hoffte einfach, dass wir das richtige Fahrzeug im Visier hatten. Ein Gedankenblitz jagte mir durch den Kopf, und ich schnappte mir das Mikrofon vom Tisch.
»Hier ist Special Agent Pellisante. Diese Leute haben wahrscheinlich Automatikwaffen und Sprengstoff dabei. In dem Wagen könnte sich eine Sprengfalle befinden, und vielleicht sitzt Cavello gar nicht mehr drin. Die Sondereinheit sollte alles daransetzen, um den Wagen zu isolieren.«
Meine Wunde war vergessen. Ich trat näher an den Monitor und beobachtete, wie die Mannschaft der Hafenbehörde den schwarzen Bronco einkreiste und andere Fahrzeuge vorbeifahren ließ. Es war eine knifflige Angelegenheit, viele – Hunderte – unschuldige Menschen waren betroffen.
Schwarz gekleidete Männer mit Helmen schlichen ins Sichtfeld der Kamera. Der Bronco war nur noch vier Fahrzeuge vom Tunneleingang entfernt, während sich die Polizisten mit gezogenen Waffen näherten. Die Scheiben des Bronco waren schwarz gefärbt. Man konnte nicht hineinschauen, aber wer herausschaute, musste sehen, dass die Polizisten auf sie zukamen.
Der Bronco rückte bis zum Tunneleingang vor, der plötzlich von einem Polizeiwagen versperrt wurde.
Aus allen Richtungen näherten sich Mitarbeiter des Sondereinsatzkommandos dem verdächtigen Fahrzeug.
Auf dem Bildschirm konnte ich das Geschehen genau beobachten. Der Bronco war von mindestens zwanzig schwer bewaffneten Polizisten umgeben.
Die vorderen Türen des Bronco wurden geöffnet. Ich trat näher an den Monitor. »Lass es ihn sein«, flehte ich mit geballten Fäusten. »Lass es ihn sein.«
Die Insassen des Bronco stiegen mit erhobenen Händen aus – ein ganz in Schwarz gekleideter Mann, dann eine Frau mit Schlapphut. Ein kleiner Junge, der sich weinend an die Frau klammerte.
»Verdammte Scheiße!«, hörte ich eine Stimme aus dem Funkgerät. Aber das Bild brauchte keinen Kommentar oder Untertitel.
Es war der falsche Wagen. Wir hatten Dominic Cavello verloren.
Ich blieb im Sicherheitsraum des Gerichts, bis die beiden Sanitäter, die sich redlich bemühten, mich so gut wie möglich zu verarzten, keine Verantwortung mehr für meine Gesundheit übernehmen konnten. Aber ich wollte nicht eher gehen, bis ich das Band gesehen hatte. Das Band mit dem Mann im Fahrstuhl – demjenigen, der Cavello befreit hatte.
Ich sah es mir mindestens ein Dutzend Mal an.
Er war mittelgroß, nicht besonders gut gebaut. Ich konnte nicht sagen, ob er alt oder jung war. Ich suchte nach besonderen Merkmalen. Er trug einen Bart, den ich für falsch hielt. Dunkles, kurzes Haar, Brille. Doch dieser Kerl wusste genau, was er tat. Er zögerte kein einziges Mal, auch nicht eine Sekunde. Er war Profi, nicht nur irgendein Mietsöldner. Er hatte uns eiskalt erwischt, trotz des Aufgebots an New Yorker Polizisten und zwei Dutzend FBI-Agenten.
»Könnten Sie das Gesicht etwas näher heranholen?«, fragte ich den Techniker, der das Videogerät bediente.
»Sofort.« Ein Tastendruck, und das Gesicht vergrößerte sich.
Ich erhob mich, trat näher an den Bildschirm. Das Bild wurde grobkörnig, schwenkte auf eine Nahaufnahme der eiskalten Augen, als der Mörder in den Fahrstuhl trat. Sicheres, sachliches, effizientes Auftreten. Ich brannte mir das Abbild dieser Augen in mein Gehirn. Der Techniker ließ den Film ganz langsam vorlaufen, ein Bild nach dem anderen. Plötzlich die Schüsse. Zwei Marshals starben.
»Schick das rüber zur Polizei und zum Krisenzentrum«, wies Doud den Techniker an. »Ich will, dass dieses Bild zu jeder Brücke, zu jedem Tunnel und zu jedem Polizisten auf der Straße geschickt wird.«
»Das ist Zeitverschwendung«, sagte ich und lehnte mich gegen den Tisch. »Jetzt sieht er schon wieder ganz anders aus.«
»Haben Sie eine bessere Idee?«, schnauzte mich Doud frustriert an.
»Könnte sein. Vergleichen Sie den Film mit Cavellos erster Gerichtsverhandlung. Gehen Sie jeden einzelnen Tag durch, wenn es sein muss. Retuschieren Sie den Bart und die Brille weg. Ich wette, er war da.«
Die Sanitäter zerrten mich sprichwörtlich aus dem Raum. Draußen wartete ein Krankenwagen. Ein letztes Mal blickte ich hinauf zum Bildschirm. Ich wollte sicher sein, dass ich diesen Mann erkannte, wenn ich ihn wiedersah.
Für mich bestand kein Zweifel: Dies war der Mann, der den Bus der Geschworenen in die Luft gejagt hatte.
Als mich der Anruf erreichte, lag ich im Krankenwagen auf dem Weg ins Bellevue Hospital.
Mein Oberkörper war nackt, eine Kanüle steckte in meinem Arm, an meiner Brust waren EKG-Sensoren befestigt. Mit eingeschalteter Sirene kämpften wir im Zickzackkurs gegen den Verkehr an. Ich bat einen der Sanitäter, mir mein Handy aus der Jackentasche zu reichen.
»Ich hab’s gerade gehört«, sagte Andie gleichzeitig ungläubig und traurig. »O Gott, Nick, ich habe es gerade in einem Café gesehen, es läuft schon in den Nachrichten.«
»Es tut mir leid, Andie.« Aber es tat mir mehr als leid. Wie oft konnte ich ihr diese Worte noch sagen?
»Verdammt, Nick, die gesamte Polizei von New York war dort.«
»Ich weiß.« Als einer der Sanitäter versuchte, mir mein Handy wegzunehmen, schob ich ihn zur Seite. Die Wunde tat mittlerweile gar nicht mehr so weh. Aber die Wut und die Enttäuschung wurden immer unerträglicher.
»Dieses Schwein hat meinen Sohn getötet, und jetzt ist er frei.«
»Er ist nicht frei«, widersprach ich. »Wir kriegen ihn. Ich weiß, wie sich das anhört, aber wir kriegen ihn.« Das Krankenhaus war nicht mehr weit entfernt. »Ich kriege ihn.«
Einen Moment lang antwortete Andie nicht. Ich wusste nicht, ob sie mir glaubte, aber in diesem Moment war mir das egal. Weil ich meinte, was ich gesagt hatte.
Ich kriege ihn.
Ich hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen, als ich mich von Andie mit einem undeutlichen »Tschüss« verabschiedete. Der Krankenwagen hielt an der Notaufnahme.
Ich hatte ihr nicht erzählt, dass ich angeschossen worden war. Richard Nordeschenko lenkte den silberfarbenen Voyager in eine der Spuren, die über die George-Washington-Brücke führten. Der Verkehr staute sich, was Nordeschenko nicht überraschte. Er hatte die Nachrichten im Radio gehört – auf jedem Sender wurde über ihre Geschichte berichtet.
Überall blitzten die Blaulichter der Polizei, jedes Fahrzeug wurde überprüft, jeder Kofferraum geöffnet. Last- und Lieferwagen wurden auf die Seite gewunken, ihre Fracht durchsucht. Nordeschenko blickte zum Himmel hinauf. Über ihm schlugen die Rotorblätter eines Polizeihubschraubers. Das war nicht gut.
Sie hatten die Fahrzeuge schon zweimal gewechselt. Er hatte sich den Bart und die Brille abgenommen, die er im Gericht getragen hatte. Es gab also nichts, worüber er sich Sorgen machen musste, oder? Also immer mit der Ruhe. Cavello war sicher im Hohlraum unter dem Rücksitz versteckt. Selbst wenn man den Bronco bereits gefunden hatte, was zählte das schon? Alles lief nach Plan. Niemand konnte ihn mit dem Fahrzeug in Verbindung bringen, das er gerade fuhr. Solange niemand Cavello entdeckte.
Die hohen Stahltürme der Brücke waren schon aus ein paar hundert Metern Entfernung sichtbar. Polizisten kamen zu Fuß in die Richtung ihres Wagens. Es war ein typischer Einsatz unter Alarmstufe rot. Sondereinsatzkommandos und Sprengstoffhunde. Vielleicht gut ausgebildet, aber ohne praktische Erfahrung. »Wie viel Verspätung haben wir?«, fragte Cavello mit schroffer Stimme. »Wie sieht’s da oben aus? Ist alles okay?«
»Entspann dich. Du solltest dich geehrt fühlen. All das hier wird nur deinetwegen veranstaltet.«
»Es ist eng hier. Und heiß. Ich liege hier schon über eine Stunde.«
»Nicht so eng wie in der Einzelzelle im Bundesgefängnis, oder? Jetzt sei bitte still. Wir müssen noch einen Kontrollpunkt passieren.«
Zwei Polizisten mit schusssicheren Westen und Automatikgewehren traten an den Voyager. Einer von ihnen tippte mit dem Gewehrlauf an die Scheibe. »Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte. Und öffnen Sie den Kofferraum.«
Nordeschenko reichte dem Beamten die Dokumente, die ihn als Bewohner der LI Barrow Street in Bayonne auswiesen. Und der Wagen war auf den Lucky-George-Wartungsdienst gemeldet.
»Schon was Neues?«, fragte Nordeschenko ihn. »Ich habe in den Nachrichten gehört, was passiert ist.«
Der Beamte prüfte die Dokumente, ohne zu antworten. Der andere hatte hinten die Klappe geöffnet und spähte hinein. Dort waren nur ein großer Industriestaubsauger, ein Teppichreinigungsgerät und ein paar Reinigungsmittel in einem Kunststoffbehälter zu sehen. Trotzdem hielt Nordeschenko den Atem an, als der Polizist anfing herumzustöbern.
Nordeschenko hatte sich eine Pistole an sein Fußgelenk gebunden. Bei einem Probelauf am Tag zuvor hatte er beschlossen, was er tun würde: die Beamten umnieten, auf der entgegengesetzten Spur, wo der Verkehr noch lief, einen Fahrer aus seinem Wagen zerren und abhauen. Cavello wäre auf sich selbst gestellt.
»Was ist das?«, bellte einer der Polizisten. Er schob die Geräte zur Seite und öffnete ein Fach.
Nordeschenko wollte schon zur Waffe greifen, tat es aber nicht. Noch nicht. Aber sein Herz blieb fast stehen. Erledige die beiden und hau ab.
»Hier drin müsste ein Ersatzreifen liegen«, stellte der Polizist fest. »Das ist Vorschrift. Was ist, wenn diese Schrottkiste liegen bleibt?« Er deckte das Fach wieder ab.
»Sie haben Recht.« Langsam entspannte sich Nordeschenko wieder. »Ich werde es meinem Chef sagen. Ich sage ihm, dass wir Ihnen eine Teppichreinigung schulden.«
Der Polizist reichte Nordeschenko den Führerschein zurück, als sein Kollege die Heckklappe wieder zuschlug. »Sie schulden mir einen Scheißdreck«, meinte er. »Besorgen Sie sich einfach einen Ersatzreifen.«
»Wird gemacht. Ich hoffe, Sie schnappen ihn«, verabschiedete sich Nordeschenko, ließ das Fenster nach oben surren und fuhr los. Minuten später, als er den Kontrollbereich verlassen hatte, kam er zügiger voran. Er überquerte die Brücke, und sobald er das Schild sah, das New York von New Jersey trennte, beruhigte er sich auch wieder.
»Herzlichen Glückwunsch. Wir haben’s geschafft«, rief er nach hinten. »Morgen um dieselbe Zeit bist du außer Landes.«
»Gut.« Cavello wand sich aus seinem Versteck. »Davor gibt es eine Planänderung. Ich muss mich noch um was kümmern. Um ein Versprechen, das ich einlösen will.«

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